Waggonfabrik   

Ein digitaler Infopunkt des Heimatvereins "Alte Burg" Dreis-Tiefenbach e.V.   

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Kein Unternehmen hat die Entwicklung des Dorfes Dreis-Tiefen­bach in den letz­ten über100 Jahren so geprägt wie die Waggon­fabrik, in der in den Zei­ten der Voll­beschäft­igung über 1500 Men­schen tätig waren. Immer wieder wurde, ins­besond­ere durch eigene Ent­wick­lungen, die Pro­duk­tion dem Markt ange­passt, so dass ihre Erzeug­nisse welt­weit gefragt waren. Bis heute wird hier modernste Tech­nik für den Waggon­bau pro­duziert.

SEAG
Waggonfabrik etwa 1920

Im Verlaufe der Zeit änderte sich sowohl die Pro­dukt­palette als auch der Firmen­name:

1905   Errichtung der ersten Werkshallen zur Güter­wagen­fertig­ung durch die Gebrüder Carl und Hein­rich Weiß
1908   "Siegener Eisenbahnbedarf AG"
1910   Vereinigung der "Siegener Maschinenfabrik Carl Weiß" und der "Stanz- und Ham­mer­werke GmbH" in Siegen mit der SEAG
1918   Vereinigung mit der "AG Charlottenhütte" in Nieder­schelden ein­schließ­lich der "Stanz- und Ham­mer­werke GmbH", Zahl der Arbeits­kräfte: 451, im Jahre 1922 schon 1113
1926   Beitritt der "AG Charlottenhütte" mit der SEAG zu den Ver­einigten Stahl­werken Düs­sel­dorf
1934   Verlegung der 1930 aufgenommenen Ackerwagen­pro­duk­tion nach Weid­enau ("Deula­bau")
1944   Bombenangriff am 4. Februar; Tod von 26 Fremd­arbeitern; erheb­liche Beschäd­igung der Betriebs­anlagen
1949   Beginn der Entwicklung neuer Güter­wagen­typen
1957   "Rheinstahl Siegener Eisenbahnbedarf AG", da nun Tochter­gesell­schaft der Rhein­ischen Stahl­werke Essen
1964   Beginn der Produktion westlich der Sieg; Ver­legung des Betriebes von Weid­enau nach Dreis-Tiefen­bach
1969   Verlegung der Produktion des "Stanzwerkes" von Siegen nach Dreis-Tiefen­bach
1971   Gründung der "Waggon Union GmbH" durch die Ver­einig­ung mit der "Deutschen Waggon- und Maschinen­fabrik GmbH" in Berlin
1975   Fertigstellung des neuen Sozialgebäudes; 1510 Beschäft­igte
1990   "ABB Henschel Waggon Union GmbH"
Seitdem mehrmaliger Wechsel der Konzern­zuordnung und damit des Namens
1994   "ABB Henschel Verkehrstechnik GmbH"; Aufgabe der Einzel­teil- und Bau­gruppen­fertig­ung und damit Be­ginn der Spe­zia­li­sierung
1996   "ADtranz Deutschland Gmbh"; nach über 90 Jahren Ein­stel­lung der Fertig­ung kom­plet­ter Waggons; Kon­zentra­tion auf die Her­stel­lung von Dreh­gestellen
1999   "ABB Daimler Chrysler Transportation GmbH"
2001   Anzahl der Beschäftigten 289; Abbau von 1100 Arbeits­plätzen seit 1987
Übernahme durch "Bombardier Transportation GmbH"; Aus­bau zum führ­enden Stand­ort für Dreh­gestelle dieses kanad­ischen Kon­zerns
2005   Anzahl der Beschäftigten: fast 500; Her­stel­lung von 72 Dreh­gestell-Typen
2021   Übernahme durch "Alstom Transportation Germany GmbH"


Geschichtliche Entwicklung


Carl Weiß war 1864 aus Württemberg nach Siegen gezogen und arbeitete dort als Maschinen­schlosser. Im Jahre 1873 gründete er eine Fabrik, die Aus­rüst­ungs­teile für den Bergbau pro­du­zierte und schnell wuchs. Der Sohn Karl stu­dierte an der Tech­nischen Hoch­schule Stutt­gart, der Sohn Hein­rich wurde Kauf­mann und arbeitete bei Firmen in Belgien, Frank­reich und Eng­land. Karl Weiß trat in das elter­liche Unter­nehmen ein und es wurden schon in Siegen Waggons gebaut. Carl Weiß starb 1904 und die beiden Söhne führten die Firma weiter. Ein Groß­auftrag über 40 Kohle­waggons für eine chin­esische Firma brachte das Werk in Siegen an seine Gren­zen.
Für schwere Waggons und die große Serie war das Werk schlecht geeignet, zumal es dort keinen Bahn­ans­chluss gab. Darum wurde 1905 das Gelände in Dreis-Tiefen­bach erworben, damals Wie­sen­flächen, die direkt an der Klein­bahn lagen. Der Bauantrag für das neue Werk wurde im Januar 1906 gestellt und am 2. April 1906 genehmigt. Schon im Herbst war das Werk in Betrieb. Im Jahre 1908 wurde das Dreis-Tiefenbacher Werk aus der Firma Carl Weiß heraus gelöst und als Sieg­ener Eisen­bahn­bedarf AG, kurz SEAG, selbst­ständig. Anfangs waren die Ver­hält­nisse hart. In seiner Wirt­schafts­geschichte zitiert Dr. Peter Vitt den Meister Engel:

"Die Lehrlinge wurden gleich den Schlosserkolonnen zugeteilt. Aufenthalts- und Waschräume kannte man damals noch nicht. Die Kleiderspinde standen an den Wänden der Werkshallen und in den Ecken. Als Waschgelegenheit diente ein Zinkeimer. Für je 4-6 Mann war ein Eimer vorhanden....... Die Wagen wurden im Geldakkord gebaut. Der Stundenlohn für Gesellen betrug damals 32-40 Pfennig, während der Vorarbeiter etwa 48 Pfennig verdiente und als Sondervergünstigung von dem Gesamtakkord seiner Kolonne 10% vorab bekam. Die Arbeitszeit ging damals noch von morgens 6 bis abends 6. Außerdem wurde noch 3-4 mal in der Woche bis abends 9 Uhr gearbeitet und oft samstags durchgehend bis sonntags früh 6 Uhr ..."

Ab 1907 wurde für die preuß­ische Staats­bahn gearbeitet. Diese Aufträge waren wich­tig, aber es wurden auch klein­ere Serien nach China und in die hol­länd­ischen Kolo­nien geliefert. Der 1. Welt­krieg brachte die Um­stel­lung auf Kriegs­pro­duk­tion.

Zu Beginn des Krieges wurden 200 Männer der Belegschaft zum Mili­tär ein­berufen. Gleich­zeitig wurden Gra­naten pro­du­ziert. Durch die Beschäft­igung von Frauen und Kriegs­gefang­enen kon­nte der Betrieb aufrecht erhalten werden. Nach dem Krieg wurde die SEAG von der Char­lotten­hütte AG über­nommen. In dieser Zeit ging es weiter berg­auf und die Zahl der Mit­arbeiter stieg auf über 1000. 1926 kam das Werk zu den Ver­ein­igten Stahl­werken (VST).
Die Weltwirtschaftskrise machte auch vor der SEAG nicht halt. 1932, auf dem Höhe­punkt der Krise, hatte das Werk nur noch 164 Beschäft­igte. Ab 1933 ging es stetig bergauf, und 1937 gab es wieder mehr als 1000 Mit­arbeiter. Der 2. Welt­krieg brachte wieder die Kriegs­pro­duk­tion. Am 4. Fe­bru­ar 1944 gab es einen Luft­,angriff auf das Werk, dabei wur­den 36 Mit­arbeiter in ihren Unter­künften ge­tötet. Die Fabrik blieb weit­gehend ver­schont.
Nach Kriegsende herrschte großer Material­mangel, aber es wur­den Re­para­tur­arbeiten an beschäd­igten Waggons ausge­führt. Im Geschäfts­jahr 1946/47 wur­den etwa 1000 Wagen repar­iert und 60 Wagen neu gebaut. In den folgenden Jahren wur­den iele Waggon­typen mit dem Ziel neu ent­wickelt, die Be- und Ent­ladung zu ratio­nali­sieren. Die SEAG ging in den Besitz der Thys­sen Indu­strie AG über. 1960 hatte das Werk fast 1600 Mit­arbeiter und es gab immer mehr Auf­träge. Zusätz­liche Arbeiter wurden aus Spanien ange­worben, spä­ter folg­ten Tun­esier und Jugo­slawen. Mit­arbeiter des Per­sonal­büros reisten ins Aus­land und warben dort geeig­nete Per­sonen an. Im Werk wurden sie, ohne weitere Schul­ung, einem erfahr­enen Stamm­arbeiter zur Seite gestellt und kon­nten prak­tisch vom ersten Tag an pro­duktiv arbeiten.
Trotz zahlreicher Neuentwicklungen konnte sich die Firma nicht dem Trend von der Schie­ne zur Straße entziehen. Die Besitzer wech­selten, die Kon­junktur war mal besser, mal schlechter, aber es wurden immer Waggons gebaut. Die Fol­gen der Wie­der­ver­einig­ung 1990 traf das Werk hart. Nun gingen die Auf­träge der Deut­schen Bahn vor­zugs­weise in Firmen der ehemaligen DDR. Bis zum Jahr 2000 ent­fielen 1100 Arbeits­plätze und es blieben noch 289. Die Exist­enz des Werkes stand auf dem Spiel. 1995 wurde der Waggon­bau auf­gegeben und der Bau von Dreh­gestel­len war nun der Schwer­punkt der Fert­igung. 2001 über­nahm die kanad­ische Bom­bardier das Unter­nehmen und machte Dreis-Tiefen­bach zum ein­zigen europäischen Her­stel­ler seiner Dreh­gestelle. Die Beschäft­igten­zahl stieg auf 700. 2014 wurde das Werk Dreh­gestell­ent­wickl­ungs­zentrum von Bom­badier mit 120 In­gen­ieuren. Die franz­ösische Firma Alstom über­nahm 2021 das Unter­nehmen, bei unver­ändertem Pro­duk­tions­pro­gramm.

Erzeugnisse